Benjamin Richter –

Zuerst etwas Allgemeines: Wenn man Bilder anschaut, nimmt man sie
in der Regel so wahr, dass man sich auf das stützt, was man schon
gesehen hat, schon erfahren, gehört, sich gemerkt hat.

Mit andern Worten: Man lässt sich von dem leiten, was man schon weiss.
Während man Bilder anschaut, ist es das Gehirn, das Gedächtnis, welches
mobilisiert ist. Nicht das Auge!
Und man sucht ganz bewusst Kenntnisse und Erklärungen zu sammeln;
man liest, was man zu lesen bekommt, hört dem zu, was man zu
hören bekommt, und in den Museen spaziert man mit dem Guide herum.

Das heisst: Wenn es das Hirn ist, welches arbeitet, und nicht das Auge, so
bedeutet das, dass man das Pferd am Schwanz aufzäumt: Man verhindert sich
den Genuss, den man sich mit den Augen und nur mit den Augen verschafft.

        Und jetzt denken Sie: Also! Wenn man die Augen brauchen soll, 
        warum gibt's hier nichts zum Anschauen?
                                                                               Warum?

Weil es nur das Werk selber ist, welches "spricht". Weil man das Werk
nur erkennen kann, indem man das Original selbst anschaut.
Die Originale sind es, die vom Künstler geschaffen worden sind, und nicht
die Reproduktionen.

Sinnvoll ist eine Reproduktion, wenn sie zur Erinnerung dient an ein Bild, mit dem
man sich eingehend auseinandergesetzt hat. Man hat etwas in der Hand, das wieder
evoziert, was man vor dem Original erlebt hat.

Sonst aber bedeutet Reproduktion (und nun gar Reproduktion auf dem Monitor
eines Computers) nichts anderes als: falsches Format; nicht treue Farben;
"entfremdete" Erscheinung  –  das heisst: man bekommt notwendigerweise
eine unrichtige Vorstellung des Werks. Wir haben uns immer getäuscht, wenn wir
glaubten, eine Sache selber zu sehen, während wir deren Reproduktion anschauten.

Wenn das Reproduzierte etwas ist, was man noch nie gesehen haben kann,
und im Internet bekannt gemacht werden soll, so ist das ein falscher Weg.
Wer ein Werk nicht kennt, lernt es so nicht kennen.

 
        Wer so weit kommen will, dass er fühlt,
        was in einem Kunstwerk steckt, der muss
        sein Auge und sein Inneres entwickeln, und
        so wird er schliesslich spüren, was es
        spricht. Man muss dies mit den eigenen Augen
        tun, mit den eigenen Gefühlen  – 
        was vom Hörensagen stammt, zählt im
        Grunde genommen nichts.
        Damit man so weit kommt  –  das ist
        Sache jedes einzelnen Menschen.

Noch etwas: Sich Kunstwerken mit Leidenschaft zu widmen, zeigt sich nicht
daran, dass man imstande ist, etwas über Kunst zu sagen.
    "Die Kunst ist deshalb da, dass man sie sehe, nicht davon spreche, als
     höchstens in ihrer Gegenwart."
                    (Goethe, Italienische Reise, Dritter Teil, 29. Juli 1787.                     
                     Der nächste Satz heisst: "Wie schäme ich mich alles
                     Kunstgeschwätzes, in das ich ehmals einstimmte.")

Ich wende mich explizit gegen die seit einigen Jahrzehnten in Mode
gekommene Haltung, dass es in erster Linie darauf ankomme, in der Lage
zu sein, etwas über die Kunstwerke zu sagen  –  auch wenn man sie
gar nicht näher angeschaut hat.

Wichtig ist, dass man die Werke anschaue,
                          und zwar die Originale.
                          Und zwar das einzelne Werk. 

Das einzelne Werk! Ein richtiges Bild ist eine ganze eigene Welt, ist etwas
Komplexes, stellt in sich selber ein Ganzes dar. Es ist allerdings nicht
sinnvoll, sich mit Bildern zu befassen, die nichts von einem solchen
Ganzen zu bieten haben. Das ist dann der Fall, wenn sie nur Beispiele für eine
verbal proklamierte Tendenz, wenn sie Illustrationen eines Programms, einer
Theorie oder eines Konzepts sind. Oder Beispiele, die sich als Bestandteile einer
Serie darstellen  –  wo auf den ersten Blick das Wesentliche erkennbar sein muss,
so dass jedermann sich schnell merken kann: "Das ist der mit..." oder "die mit..."

So kann man sich schnell als Kenner präsentieren und gute Figur machen.
Und so stellen Künstler ihre Werke in Serien her, präsentieren sie auf gleiche
Art, mit Vorteil im gleichen Format, so dass man gleich sieht, woran man ist.
So braucht man das Einzelne wirklich nicht mehr anzuschauen. Aber das ist
nicht der Sinn von Kunstwerken.

Für jemanden, der sich nüchtern und ernsthaft mit Kunst beschäftigt, ist es
nichts Neues, dass Kunstwerke, in denen etwas steckt, keineswegs auf den
ersten Blick und auf Grund dessen, was man von ihnen schon weiss,
das preisgeben, was in ihnen steckt, sondern:
sukzessive, immer mehr, je mehr man sich auf sie einlässt. Das Rezept heisst:
den guten Bildern zu begegnen und sich mit Lust auf sie einzulassen. 

Es ist nicht richtig, Kunst erst dann und nur dann zu geniessen, wenn man davon
in der Zeitung liest, und wenn man dazu eine Geschichte hört, die man sich merken
kann. Die Tatsache, dass die Kunst im 20. Jahrhundert sich in eine Situation
hineinmanövriert hat, die man als "Kommentarbedürfigkeit" bezeichnet
hat (der Ausdruck stammt von Arnold Gehlen), besagt nicht, dass es keine
Kunstwerke mehr geben dürfe, die sich diesem Bedürfnis widersetzen; Werke
also, die selber "die Geschichte" sind. Man kann ihnen nicht mit Gedächtnistätigkeit
begegnen, sondern nur mit den Augen.
Sollen Kunst und Kunstleben so weit gekommen sein, dass es als Nachteil zu
gelten hat, wenn man das Publikum zum Schauen statt zum Aufnehmen von
Kommentaren einlädt?

 

Ich weiss, dass die Gedanken, die hier zu lesen sind, nicht der allgemeinen
Erwartungshaltung bei den meisten Kunstinteressierten von heute entspricht.
Ich möchte jedoch allen ans Herz legen, einmal von den Dogmen, die heute
undiskutiert und selbstverständlich sind, etwas Abstand zu nehmen, und zu
erkennen, was für Beschränktheiten sie mit sich bringen. Es gibt sehr wohl
Wege, um sich auch für anderes zu öffnen.
Und es gibt auch Leute, die sich dieser Probleme bewusst sind.
In einem weit herum verbreiteten Katalog stand vor einiger Zeit der Spruch:
"Was das Sehen betrifft, sind wir Menschen heute Analphabeten..."